15 September 2017

buch: David Van Reybrouck / Zink

cover david van reybrouck zinkDavid Van Reybrouck / ZINK
aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
EAN 9783518072905 / 86 Seiten / Taschenbuch
Suhrkamp (6.3.2017) / 10,00 Euro

Im heutigen Dreiländereck zwischen Belgien, Deutschland und den Niederlanden existierte für 103 Jahre ein Mikrostaat. Eine historische Randnotiz? Nur ein politisches Kuriosum?

Napoleon war besiegt, die Grenzen in Europa wurden während des Wiener Kongresses von 1814/15 neu gezogen. Nur um ein Gebiet von knapp 3,5 Quadratkilometern herrschte ein außerordentlicher Dissens. Kaum verwunderlich, da der territoriale Zankapfel zwischen Preußen und den Niederlanden gewinnträchtige Zinkerz-Vorkommen beherbergte. Schließlich beschlossen beide Staaten im Juni 1816 einen Teilungsplan und erklärten das Gebiet um Kelmis und die Zinkhütte Vieille Montagne für demilitarisiert und neutral. Neutral-Moresnet sollte es auch heißen. Ein Provisorium, dass länger währte, als geplant, samt der mit dem Lineal gezogenen Grenzen quer durch Gemeinden und Höfe. Doch was schien hier geplant?

Kurios ging es in diesem Zwergstaat zu – und mitunter zweifelsohne anarchisch. Altenberg, Kelmis, La Calamine, Moresnet - diese Region mit ihren vielen Namen war ein Schmelztiegel europäischer Kultur. Die Menschen sprachen Kelmiser Platt, Hochdeutsch, Französisch, Niederländisch oder Esperanto. Sogar ihren Hauptsitz verlegten die Esperantisten 1908 nach Neutral-Moresnet und hatten große Pläne.

Als Rechtsgrundlage galten offiziell die völlig veralteten napoleonisch-revolutionären Gesetze, verhandelt wurde wahlweise vor einem preußischen oder belgischen Gericht. Die vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen, niedrige Steuern, keinerlei Einfuhrzölle und ein rasantes Bevölkerungswachstum ließen das kleine Neutral-Moresnet pulsieren. Deserteure, Bergarbeiter, Weltverbesserer, Schmuggler und Heimatlose fanden hier zueinander. Selten liest sich Geschichte so lebendig, wie in diesem in der edition suhrkamp erschienenen Essay.

In dieses aufregende gesellschaftliche Klima wird 1903 Emil Rixen, Sohn der Maria Rixen, hineingeboren. Ein sogenannter „Neutraler“. Zwei Weltkriege wird er miterleben, drei Namen tragen, fünf Staatsbürgerschaften besitzen, elf Nachkommen zeugen – ein von Anfang an kompliziertes Leben, dass Van Reybrouck in kurzen Zügen bildhaft nacherzählt.

Ab 1914, so erfahren wir, dienten von den 4668 jungen Männern, die einen der deutschen, die anderen der belgischen Armee. Der Erste Weltkrieg spaltete Familien, zog einen Riss mitten durch die Wohnstuben. Als „verwaist, verstört und wie Emil ohne verlässliche Eltern“ beschreibt der Autor die Grenzregion nach Kriegsende. Am 28. Juni 1919 fiel das Gebiet dann letztlich Belgien zu, doch der Riss blieb und mit ihm lässt sich ganz gut beschreiben, wie es im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Region weiterging.

Nach dem zweiten Weltkrieg war dann auch Schluss mit dem Bergbau in der Region. Er war schlicht unrentabel geworden. Und hier schließt sich ein Kreis, endet in gewisser Weise auch die Geschichte von Neutral-Moresnet – bei den Zinkhütten, den Galmei-Vorkommen von Kelmis, mit denen alles begonnen hatte. Knapp einhundertfünfzig Jahre zuvor hatte auf dem Wiener Kongress Uneinigkeit über ihren territorialen Verbleib geherrscht.

Geblieben ist die Geschichte eines Mikrostaats, des letzten Vierländerecks unseres Kontinents, eines europäischen Absurdistans, die so erzählt werden musste, wie es der belgische Historiker David Van Reybrouck meisterlich getan hat: es ist ein Menschenleben das im Vordergrund, dieses von so großen Zusammenhängen getragenen Textes, steht. Zusammenhänge, in denen der einzelne Mensch eigentlich, als billige Kulisse dient.

So liegt uns gleichermaßen ein historischer Essay, wie eine kuriose Geschichtsnovelle vor. Kurzweilig und spannend erzählt, sowie absolut aktuell. Es muss uns schwerfallen während der Lektüre keinen Bezug zur europäischen Gegenwart herzustellen.

„Jetzt ist es Winter, und der erste Schnee fällt“, lautet der Schlusssatz des Buches. Es ist sicher erlaubt, mehr in ihm zu lesen, als die poetische Beschreibung eines meteorologischen Ereignisses.

und nun die werbung:

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