16 September 2017

buch: F.M. Esfandiary / Der letzte Ausweis

cover fm esfandiaryFereidoun M. Esfandiary / Der letzte Ausweis
aus dem Englischen von Ilija Trojanow und Susann Urban
EAN 9783763259984 / 240 Seiten / Gebunden
Büchergilde Gutenberg (2.3.2009) / k.LP. Euro

Wann ist ein Mensch ein Mensch?

Dariusch Aryana benötigt ein Ausweisdokument. Wenige Wochen zuvor war jener Mann, der seit seiner Kindheit im Ausland lebte, in seine Geburtsstadt Teheran zurückgekehrt. Eine Mischung aus abstraktem Heimweh und gefühlter Entwurzelung, sowie eine tiefe Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Familie, ließen ihn diesen Entschluss fassen. Im Teheran der 1960er Jahre angekommen stellt er nach wenigen Wochen fest, dass auf seine Rückkehr, in diese ihm fremd gebliebene Heimat, seine baldige Abreise folgen muss. Er braucht nur einen neuen Pass beantragen, doch was so einfach sein könnte, entwickelt sich zu seiner Odyssee durch Behörden und Ministerien bis in das Büro des Kriegsminister.

In den Irrgängen der iranischen Bürokratie geht es für Dariusch nun treppauf und treppab, von einem Vorzimmer zum nächsten, um nur wieder auf einen Beamten zu treffen, der ihn untertänigst in Empfang nimmt. Dieser hört sich den Sachverhalt an, um Dariusch anschließend in einem, mit allerlei geheuchelten Respektsbekundungen gespickten Monolog in jeder Angelegenheit zu vertrösten. Der heiße Tee und das Gebäck werden ihm nicht angeboten, sondern aufgenötigt und all das unter dem Deckmantel dieser unerträglichen Höflichkeit, die selbst den Widerstand des größten aller Stoikers bricht. So geht es Woche für Woche und das Gemüt unseres Protagonisten verdüstert sich. Er fühlt sich gefangen. Gefangen ohne Identität.

In einigen wenigen Nächten sucht er Zuflucht bei der jungen Safura; ein einfaches Mädchen, nicht zu hübsch, äußerst geduldig und zurückhaltend. Sie teilen das Matratzenlager und im Schoße der Weiblichkeit, so scheint es, kann Dariusch für einige Momente seinem Getriebensein entfliehen und ganz Mensch sein. Und obgleich er durchaus mit dem Gedanken spielt, sich ein Leben an der Seite Safuras einzurichten, wendet er sich allmorgendlich von ihr ab. Falsch, so kommt es ihm vor. Einfach alles in diesem Land. Persien. Iran. Was auch immer, er will nur noch fort.

Inmitten eines sich anbahnenden politischen Umsturzes gerät Dariusch unfreiwillig immer tiefer in die Mühlen des korrupten Machtapparats. Während ihm sein eigentliches Ziel plötzlich wieder in greifbare Nähe zu rücken scheint, fällt es ihm immer schwerer seine Abscheu gegenüber der allgemeinen Borniertheit nicht kundzutun. Doch zu welchem Preis?

Das von F.M. Esfandiary alias FM-2030 in diesem großartigen Roman geschilderte gesellschaftliche Miteinander scheint auf einer Geisteshaltung zu fußen, die Alexei Yurchak 2006, in Anlehnung an das Leben in der letzten Ära der Sowjetunion, mit Hypernormalisation bezeichnete. Jeder weiß, dass das System, wie es ist, scheitern muss, doch da es von jedem als alternativlos angesehen wird, täuscht man über diesen Umstand hinweg. Mit der Zeit wird diese Selbsttäuschung, als die tatsächlich erlebte Realität angenommen. Schlicht gesagt: alle lügen sich selbst in die Tasche, jeder andere weiß Bescheid und irgendwann wird die Lüge zur Wahrheit.

Sa'adi formulierte es in seiner gerühmten Sammlung persischer Kurzgeschichten und Gedichte so: 'Eine klug ausgedachte Lüge ist besser als eine aufrührerische Wahrheit.' - dieser Satz stand dem vielbesprochenen Buch 'Stadt der Lügen' (City of Lies, 2014) von Rita Navai voran. Vielleicht wurde es im Feuilleton deshalb bejubelt und gefeiert, weil es, als vermeintliches Porträt der iranischen Hauptstadt und ihrer Einwohner, bisweilen so zeitgemäß reißerisch und explizit daherkommt.
Attribute, die man Esfandiarys 1966 vollendetem Roman 'Der letzte Ausweis' glücklicherweise nicht zuschreiben kann - er ist gänzlich zeitlos, wohltuend geistvoll und wird von einem literarischen Facettenreichtum getragen, den man heut leider oft vergeblich sucht. Die psychologische Tiefe, mit der die Protagonisten und ihr Umfeld geschildert werden, entbehrt nicht selten einer kafkaesken Komik. Und vielleicht formulierte der Schriftsteller auch deshalb im Vorwort so vielsagend: 'Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, daß es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.'

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