31 Mai 2010

buch: Nicolai Lilin / Sibirische Erziehung

cover lilinNicolai Lilin / Sibirische Erziehung
aus dem Italienischen von Peter Klöss
EAN 9783518461624 / 453 Seiten
Suhrkamp (2010) / 14,90 Euro

Was macht ein Leben erinnernswert? Nicolai Lilin zeigt es.

Die neue Reihe 'suhrkamp nova' schickt sich an mein diesjähriger Favorit zu werden. Erst das großartige Debüt von Elisabeth Rank 'Und im Zweifel für dich selbst' und nun darf ich mich über das neue Buch von Perihan Magden 'Wovor wir fliehen' freuen. Gerade ausgelesen - und darum soll es hier nun gehen - habe ich Nicolai Lilins 'Sibirische Erziehung'. Roberto Saviano [*] schrieb im April 2009 in der La Repubblica 'Wer dieses Buch lesen will, muss die Kategorien von Gut und Böse, wie wir sie kennen, vergessen und die Gefühlswelt, in der er sich eingerichtet hat, außen vor lassen. Einfach nichts tun: nur lesen.' Beides fiel mir, wie man sich denken kann, nicht schwer.

Am Fluss Dnister, genauer in der Stadt Bender, ist Nicolai Lilin 1980 geboren und wurde zum Teil dessen was Sibirische Erziehung genannt wird. In Transnistrien an der Grenze zu Moldawien wächst er unter der Obhut der Urki auf - einem 1938 unter Stalins Gewaltherrschaft dort hin zwangsumgesiedelten Clan aus Kriminellen. Heute ist diese Gemeinschaft verschwunden und der Autor selbst lebt und wirkt als Tätowierkünstler im piemontesischen Cuneo. Anfangen tut alles am Ende; im Kampfgebiet von Tschetschenien. Hier hat Lilin gezwungenermaßen für die Russen kämpfen müssen und desertierte. Seine Schilderungen sind nur wenige Seiten lang, aber sie bleiben unwiderruflich im Kopf des Leser. Er wird sich erinnern.

Die Unterstadt in der Nicolai seine Kindheit und Jugend verbringt, ist das Viertel der Urki. Hier herrschen ihre Gesetze und selbst die Polizei, mit denen einem Mitglied der Gemeinschaft zu verhandeln strikt verboten ist, wagt sich nicht her. Gleich zu Beginn erinnert sich Lilin an eine seiner ersten Begegnungen mit der (machtlosen) Staatsgewalt im Haus seiner Familie. Die erzählten Begebenheiten und Anekdoten aus seinem Leben sind geprägt vom vermittelten Weltbild seiner Sippe. Ein tief orthodoxer Glaube mischt sich mit heidnischem Brauchtum. Mord und Gewaltanwendung sind erlaubt, doch verhindern klare Regeln und der Rat der kriminellen Autoritäten, dass es ungestraften Entgleisungen kommt.

Die Hierarchie der Urki ist klar strukturiert, doch muss sich nicht nach oben geduckt und nach unten getreten werden. Nicht nur der Respekt vor Alten, Kindern und Behinderten ist Pflicht, sondern sie werden mit allen Mitteln der Gemeinschaft geschützt.

'Ich bin unter lauter Gottgewollten aufgewachsen, viele wurden meine Freunde. Sie erschienen mir nicht nur normal, für mich waren sie normal, wie alle anderen.'
Sie können nicht hassen, sie können nur lieben und sie selbst sein, und wenn sie einmal gewaltätig werden, so speist sich diese Gewalt nie aus der Kraft des Hasses; sie sind wie kleine Kinder, nur dass die Kinder wachsen und als Erwachsene oft ziemliche Arschlöcher werden, (...)


Später entdeckt Nicolai seine Passion für die traditionelle Tätowierkunst aus Sibirien. Die Tattoos der Urki sind verschlüsselte Biografien, sie sind eine stumme Sprache, die das Sprechen obsolet macht. Ihr Erbe zu bewahren wird seine Lebensaufgabe, für die er einen langen Lernprozess durchlaufen muss, der einen atemlos blättern lässt. Das Leben von Nicolai Lilin alias Kolima musste erzählt werden. Die Ambivalenz des ehrbaren Kriminellen wird dem Leser erst verständlich, wenn er, ganz wie Saviano erklärt, sich vom Gut und Böse - Schema verabschiedet. Ist dies geschehen, dann ist die Tür geöffnet, zu einer Welt, von der ich mich frage, ob ich ihr nicht mehr Verständnis entgegenbringen kann, als dem aktuell vorherrschenden Zeitgeist.

und nun die werbung:

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