28 September 2011

media: The Vigilant Citizen

vigilantcitizenTHE VIGILANT CITIZEN
web. vigilantcitizen.com
founder. ask vigilant
since. 2008
location. kanada

'Glaubt mir das! Später werde ich die Weltherrschaft an mich reißen.', rief er uns von der Bühne zu, schnappte sich sein Abschlusszeugnis, stürmte aus der Aula und ward nicht mehr gesehen. Das ist knappe acht Jahre her. Gestern war er wieder da und hat mir die Welt erklärt. Ich saß vor einem der unzähligen Cafés im Univiertel und verdaute gerade die letzten Seiten des Buches 'Radikal' von Jon Ronson, als er sich vor mir in einen Stuhl fallen ließ. Er sah ein bisschen aus wie John Lennon in den frühen Siebziger, kniff die Augen zusammen, als hätte er starke Schmerzen und seine auffällig langen Fingernägel fielen mir gleich auf. Mit diesen tippte er nämlich gut hörbar auf den nunmehr zwischen uns auf dem Tisch liegenden Einband, legte die Stirn in Falten und fragte mich unumwunden, ob ich wüsste, dass Ronson auch einer von denen sei. Von denen! Ohne eine Antwort abzuwarten legte er los: Illuminaten, shapeshiftende Reptilienmenschen, MK ULTRA, Bilderberger, Freimaurer, Propaganda Due, Bohemian Grove und Jay-Z.

 
Alles mischte sich, alles verschwamm. Kein Räuspern, kein eingeworfenes Wort, keine Geste konnte ihn stoppen. Überwältigt von dieser fast inszeniert wirkenden Begegnung und dem sich mir bietenden Schauspiel bekam ich auch noch einen nervösen Schluckauf, den ich minutenlang zu unterdrücken versuchte. 'Jay-Z??' Meine Nachfrage muss refluxbedingt unfreiwillig hysterisch oder alarmierend geklungen haben. Jedenfalls war die Brandrede plötzlich unterbrochen. Er senkte den Kopf, stieß mich unter dem Tisch an und versuchte mir bemüht unauffällig einen Zettel zu reichen. Ich spielte mit, tat geheimnisvoll und ließ den Zettel gleich unter einer Serviette verschwinden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen stand er auf und ging. So saß ich noch einen Augenblick da, wartete auf eine überraschende Erklärung für diese surreale Begegnung und warf dann endlich einen Blick auf das ominöse Stück Papier. Eine mehrmals gefaltete Seite einer Bedienungsanleitung für eine Wetterstation also, und auf ihr hatte er nur eine Internetadresse notiert. Ich zahlte und machte mich auf den Heimweg. Erst später am Abend schnappte ich mir den Laptop, setzte mich auf den Balkon und las mich in die Seite, die er mir da offenbart hatte, ein.

The Vigilant Citizen ist das Netzprojekt eines im Osten Kanadas lebenden Mitzwanzigers mit libanesischen Wurzeln. Das Konfuzius zugeschriebene Zitat 'Signs and Symbols rule the World, not Words nor Laws.' steht über allem. Sein Weltbild fußt offensichtlich auf einer sogenannten Zentralsteuerungshypothese, was bedeutet, dass er davon ausgeht, dass irgendwie, irgendwo im Verborgenen eine fast schon übermenschliche Elite die Geschicke der Welt lenkt.

Auf vigilantcitizen.com geht es dem Autor sowohl darum das angenommene 'wie', als auch das 'wer' zu analysieren bzw. zu identifizieren. Es finden sich durchaus spannende Beiträge zu okkulter Symbolik in Massenmedien und Popkultur, zu vermeintlich versteckten Botschaften in Architektur und Stadtplanung, sowie zur Steuerung des Unterbewussten durch gezielte Gedankenkontrolle. Und genau da finde ich auch Jay-Z wieder, dessen Musikvideo zu 'On To The Next One' mit viel Akribie als okkultes Machwerk entlarvt wird. So demonstrieren Künstler dann wohl ihre Zugehörigkeit zum elitären Zirkel. Vieles wirft Fragen auf, manchmal führt das zu langen eigenen Recherchen, wie der spannende Artikel zum Denver Airport - tatsächlich ein unwahrscheinlich unheimlicher Ort, wenn man ihn mit offenen Augen durchschreitet.

Mit Sicherheit eine abgedrehte Website. Mit gesunder Distanz und kritischem Denken jedoch ein virtuelles Erlebnis für sich. Fest steht jedenfalls, dass diese Seite ums vielfache spannender und lesenswerter ist als jeder der trivialen Romane von Dan Brown. Nur wenn man nicht aufpasst irrt man irgendwann eben als eine, die ultimative Wahrheit predigende John Lennon-Kopie durch sonnige Großstädte und vergisst, dass Obsession und Wahrheit nicht zusammen funktionieren.

23 September 2011

buch: Raouf Khanfir / Wittgenstein

cover raouf khanfir wittgensteinRaouf Khanfir / Wittgenstein
Roman
EAN 9783941978072 / 152 Seiten
Hablizl (2011) / 16,90 Euro

There are some people who can swallow their fear ...

Dieses Buch ist augenscheinlich eine der guten Neuerscheinungen in diesem Jahr. Augenscheinlich, weil die Buchgestaltung schon hervorragend ist. Verantwortlich für diese Arbeit zeichnet niemand Geringeres als der Grafiker Mario Lombardo und sein BUREAU LOMBARDO. Verlegt wird das Buch im unabhängigen HABLIZEL Verlag, dessen sowieso ausgewähltes Programm an dieser Stelle nicht verschwiegen werden sollte. Also eine augenscheinlich gute Neuerscheinung - und wie sieht es mit dem Inhalt, dem essentiellsten Teil eines Buches, aus? Kurzum, auch hier kann ein sehr gutes Urteil gefällt werden: Raouf Khanfir ist ein wirklich lesenswertes Debüt gelungen!

Widmen wir uns der Geschichte. Marco H. besitzt nicht viel. Er bewohnt ein möbiliertes Zimmer im kanadischen Montréal und kann seinen weltlichen Besitz in zwei Koffern unterbringen. Sein Leben gestaltet sich recht ungezwungen, ja nahezu hedonistisch könnte man sagen. Konzertbesuche, lange Abende auf seiner Holzterasse zur Ruelle und jeden Morgen die Warterei vor dem gemeinsamen Badezimmer der Hausgemeinschaft.

Eines morgens ereilt Marco H. eine gute Nachricht. Behördenpost aus Bad Berleburg in Deutschland verkündet, dass er ein Haus geerbt habe. Er beschließt Montréal zu Gunsten der südwestfälischen Provinzu verlassen. Eine streibare Entscheidung. Bei seiner Ankunft in Wittgenstein, hier also nun erkennen wir, dass der Namensgeber des Buches keineswegs der große, gleichnamige Philosoph ist, tritt ihm das ungewöhnliche Begrüßungskommitee gegenüber. Ein etwa zehnjähriges Mädchen tritt aus dem Halbschatten der Bahnhofshalle, tritt zaghaft vor, piepst ein Willkommen und verschwindet ebenso schnell, wie sie auftauchte.

Fortan, so könnte man sagen, geht einiges nicht mehr mit rechten Dingen zu. Das Haus der Grosstante scheint vom Geist eben jener Dame bewohnt zu werden. Zwar findet Marco H. einen Job als Telefonist beim örtlichen Taxiunternehmen und sogar eine neue Freundin, doch ist da auch noch ein alter Nachbar aus Kanada, der alles über ihn zu wissen scheint und letztlich sterben Menschen. An den Landstraßen liegen sie. Ohne Gesichter. Für immer aus dem Dasein gestrichen.

Hier darf geschlossen werden. Nur eins sei noch gesagt: Wittgenstein ist ein zweistimmiger Roman. Und obwohl es dem aufmerksamen Leser nicht schwer fallen wird, die zweite Stimme rasch zu zuordnen, verliert dieses Buch keinesfalls an Spannung. Präzise formuliert es der Klappentext: 'Existenzialistischer Krimi. Mysteriöse Geistergeschichte. Wie ein sanfter, dennoch beunruhigender Albtraum während eines zu lang geratenen Mittagsschläfchens'. Lesen Sie dieses Buch, werte Herrschaften!

und nun die werbung::

01 September 2011

buch: Viktor Pelewin / Buddhas kleiner Finger

cover viktor pelewin buddhas kleiner fingerViktor Pelewin / Buddhas kleiner Finger
Roman
aus dem Russischen von Andreas Tretner
EAN 9783630621593 / 432 Seiten
Sammlung Luchterhand (1999) / 10,00 Euro

Literatur vom Abhanden- und Ankommen im Nirgendwo

Viktor Pelewin gilt als einer der begnadetesten, zeitgenössischen Schriftsteller Russland und kann auf eine riesige Fangemeinde zählen. Trotzdem tritt er, obwohl doch wohnhaft in Moskau, in seiner Heimat nicht öffentlich auf. Das bedeutet keine Lesungen, keine Interviews, jedoch aber eine stete Präsenz im Internet. Kein Wunder, denn auch als das hier anempfohlene Buch Buddhas kleiner Finger für den russischen Booker Preis vorgeschlagen wurde, hat die Jury befunden, dass dieser Mann eine Gefahr für das kulturelle Gedächtnis Russlands darstellt. Pelewin ging damals natürlich leer aus. 2001 erhielt der brilliante Andreas Tretner für die deutsche Übersetzung den Paul-Celan-Preis - doch Auszeichnungen hin oder her, denn hat dieser Schriftsteller sie wirklich nötig?

Russland 1919 - Pjotr Pustota ist ein junger Dichter aus St. Petersburg. Nun muss noch gestattet sein, dass an dieser Stelle der Name Pustota zu übersetzen ist: auf Deutsch bedeutet er so viel wie 'Leere'. Der junge Mann also dichtet und wird in den aufgeregten Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche von den falschen Menschen missverstanden. Ihm bleibt nur die Flucht nach Moskau, wo er sich, gerade erst angekommen, in seinem alten Freund Grigori von Ernen empfindlich täuscht und diesen erwürgt. Ein Zwischenfall der ihm unfreiwillig zu einer neuen Identität und später zur Bekanntschaft mit Wassili Iwanowitsch Tschapajew verhilft.

Tschapajew mag der russiophilen Leserschaft möglicherweise aus dreierlei Gründen bekannt sein: Als legendärer Kommandeur der Roten Armee, als Hauptfigur sowohl im gleichnamigen russischen Filmklassiker, als auch in unzähligen Witzen. Viktor Pelewin erhebt diesen Mann jedoch auch zu einem mysteriösen, unnahbaren buddhistischen Meister. Ihn und Pustota werden Gespräche, in von Alkohol und Papirossa Qualm geschwängerter Luft, in höchste Höhen schwingen. Im Kampf zwischen Roten und Weißen bringt es der ehemalige Dichter und Querulant zum Politkommisar des Kommadeurs. Bis sich alles in Leere auflöst ...

Pelewins Kunstgriff ist die Auflösung einer zeitlichen Kontinuität. Als Leser finden wir uns plötzlich im Moskau der Gegenwart wieder. Genauer in der Nervenklinik des fragwürdigen Professors Kanaschnikow. Ja, Kanaschnikow. Unserem vermeintlichen Dichter wird eine astreine Pseudopersönlichkeitsstörung zugeschrieben. Bei heilästhetischen Praktika und absurden Gruppengesprächen lernen wir einige sogenannte 'neue Russen' kennen. Menschen wie den jungen Maria, dessen phallische Fantasien unter anderem eng mit Arnold Schwarzenegger verknüpft sind.

Wo führt das alles hin? Buddhas kleiner Finger ist kein einfaches Hin und Her zwischen zwei absurd-fantastischen Schauplätzen und kein schlichtes Sittengemälde einer Nation, deren kulturelles Gedächtnis schon seit vielen Jahrzehnten empfindlich angeschlagen ist. Weder spinnt Pelewin ausschließlich, noch spiegelt er nüchtern. Die Stärke dieses Romans liegt in seiner literarischen Tiefe, einer unwahrscheinlichen Komik und der bittersüßen Tragik jeder Figur. Mit voller Inbrunst kann man Hellmuth Karasek zitieren, wenn dieser anmerkt, dass es Kapitel gebe, die 'zum Grandiosesten gehören' was er seit langer Zeit gelesen habe.

und nun die werbung: