Fereidoun M. Esfandiary / Der letzte Ausweis
aus dem Englischen von Ilija Trojanow und Susann Urban
EAN 9783763259984 / 240 Seiten / Gebunden
Büchergilde Gutenberg (2.3.2009) / k.LP. Euro
Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Dariusch Aryana benötigt ein Ausweisdokument. Wenige Wochen zuvor war jener Mann, der seit seiner Kindheit im Ausland lebte, in seine Geburtsstadt Teheran zurückgekehrt. Eine Mischung aus abstraktem Heimweh und gefühlter Entwurzelung, sowie eine tiefe Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Familie, ließen ihn diesen Entschluss fassen. Im Teheran der 1960er Jahre angekommen stellt er nach wenigen Wochen fest, dass auf seine Rückkehr, in diese ihm fremd gebliebene Heimat, seine baldige Abreise folgen muss. Er braucht nur einen neuen Pass beantragen, doch was so einfach sein könnte, entwickelt sich zu seiner Odyssee durch Behörden und Ministerien bis in das Büro des Kriegsminister.
In den Irrgängen der iranischen Bürokratie geht es für Dariusch nun treppauf und treppab, von einem Vorzimmer zum nächsten, um nur wieder auf einen Beamten zu treffen, der ihn untertänigst in Empfang nimmt. Dieser hört sich den Sachverhalt an, um Dariusch anschließend in einem, mit allerlei geheuchelten Respektsbekundungen gespickten Monolog in jeder Angelegenheit zu vertrösten. Der heiße Tee und das Gebäck werden ihm nicht angeboten, sondern aufgenötigt und all das unter dem Deckmantel dieser unerträglichen Höflichkeit, die selbst den Widerstand des größten aller Stoikers bricht. So geht es Woche für Woche und das Gemüt unseres Protagonisten verdüstert sich. Er fühlt sich gefangen. Gefangen ohne Identität.
In einigen wenigen Nächten sucht er Zuflucht bei der jungen Safura; ein einfaches Mädchen, nicht zu hübsch, äußerst geduldig und zurückhaltend. Sie teilen das Matratzenlager und im Schoße der Weiblichkeit, so scheint es, kann Dariusch für einige Momente seinem Getriebensein entfliehen und ganz Mensch sein. Und obgleich er durchaus mit dem Gedanken spielt, sich ein Leben an der Seite Safuras einzurichten, wendet er sich allmorgendlich von ihr ab. Falsch, so kommt es ihm vor. Einfach alles in diesem Land. Persien. Iran. Was auch immer, er will nur noch fort.
Inmitten eines sich anbahnenden politischen Umsturzes gerät Dariusch unfreiwillig immer tiefer in die Mühlen des korrupten Machtapparats. Während ihm sein eigentliches Ziel plötzlich wieder in greifbare Nähe zu rücken scheint, fällt es ihm immer schwerer seine Abscheu gegenüber der allgemeinen Borniertheit nicht kundzutun. Doch zu welchem Preis?
Das von F.M. Esfandiary alias FM-2030 in diesem großartigen Roman geschilderte gesellschaftliche Miteinander scheint auf einer Geisteshaltung zu fußen, die Alexei Yurchak 2006, in Anlehnung an das Leben in der letzten Ära der Sowjetunion, mit Hypernormalisation bezeichnete. Jeder weiß, dass das System, wie es ist, scheitern muss, doch da es von jedem als alternativlos angesehen wird, täuscht man über diesen Umstand hinweg. Mit der Zeit wird diese Selbsttäuschung, als die tatsächlich erlebte Realität angenommen. Schlicht gesagt: alle lügen sich selbst in die Tasche, jeder andere weiß Bescheid und irgendwann wird die Lüge zur Wahrheit.
Sa'adi formulierte es in seiner gerühmten Sammlung persischer Kurzgeschichten und Gedichte so: 'Eine klug ausgedachte Lüge ist besser als eine aufrührerische Wahrheit.' - dieser Satz stand dem vielbesprochenen Buch 'Stadt der Lügen' (City of Lies, 2014) von Rita Navai voran. Vielleicht wurde es im Feuilleton deshalb bejubelt und gefeiert, weil es, als vermeintliches Porträt der iranischen Hauptstadt und ihrer Einwohner, bisweilen so zeitgemäß reißerisch und explizit daherkommt.
Attribute, die man Esfandiarys 1966 vollendetem Roman 'Der letzte Ausweis' glücklicherweise nicht zuschreiben kann - er ist gänzlich zeitlos, wohltuend geistvoll und wird von einem literarischen Facettenreichtum getragen, den man heut leider oft vergeblich sucht. Die psychologische Tiefe, mit der die Protagonisten und ihr Umfeld geschildert werden, entbehrt nicht selten einer kafkaesken Komik. Und vielleicht formulierte der Schriftsteller auch deshalb im Vorwort so vielsagend: 'Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, daß es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.'
und nun die werbung:
16 September 2017
buch: F.M. Esfandiary / Der letzte Ausweis
15 September 2017
buch: David Van Reybrouck / Zink
David Van Reybrouck / ZINK
aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
EAN 9783518072905 / 86 Seiten / Taschenbuch
Suhrkamp (6.3.2017) / 10,00 Euro
Im heutigen Dreiländereck zwischen Belgien, Deutschland und den Niederlanden existierte für 103 Jahre ein Mikrostaat. Eine historische Randnotiz? Nur ein politisches Kuriosum?
Napoleon war besiegt, die Grenzen in Europa wurden während des Wiener Kongresses von 1814/15 neu gezogen. Nur um ein Gebiet von knapp 3,5 Quadratkilometern herrschte ein außerordentlicher Dissens. Kaum verwunderlich, da der territoriale Zankapfel zwischen Preußen und den Niederlanden gewinnträchtige Zinkerz-Vorkommen beherbergte. Schließlich beschlossen beide Staaten im Juni 1816 einen Teilungsplan und erklärten das Gebiet um Kelmis und die Zinkhütte Vieille Montagne für demilitarisiert und neutral. Neutral-Moresnet sollte es auch heißen. Ein Provisorium, dass länger währte, als geplant, samt der mit dem Lineal gezogenen Grenzen quer durch Gemeinden und Höfe. Doch was schien hier geplant?
Kurios ging es in diesem Zwergstaat zu – und mitunter zweifelsohne anarchisch. Altenberg, Kelmis, La Calamine, Moresnet - diese Region mit ihren vielen Namen war ein Schmelztiegel europäischer Kultur. Die Menschen sprachen Kelmiser Platt, Hochdeutsch, Französisch, Niederländisch oder Esperanto. Sogar ihren Hauptsitz verlegten die Esperantisten 1908 nach Neutral-Moresnet und hatten große Pläne.
Als Rechtsgrundlage galten offiziell die völlig veralteten napoleonisch-revolutionären Gesetze, verhandelt wurde wahlweise vor einem preußischen oder belgischen Gericht. Die vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen, niedrige Steuern, keinerlei Einfuhrzölle und ein rasantes Bevölkerungswachstum ließen das kleine Neutral-Moresnet pulsieren. Deserteure, Bergarbeiter, Weltverbesserer, Schmuggler und Heimatlose fanden hier zueinander. Selten liest sich Geschichte so lebendig, wie in diesem in der edition suhrkamp erschienenen Essay.
In dieses aufregende gesellschaftliche Klima wird 1903 Emil Rixen, Sohn der Maria Rixen, hineingeboren. Ein sogenannter „Neutraler“. Zwei Weltkriege wird er miterleben, drei Namen tragen, fünf Staatsbürgerschaften besitzen, elf Nachkommen zeugen – ein von Anfang an kompliziertes Leben, dass Van Reybrouck in kurzen Zügen bildhaft nacherzählt.
Ab 1914, so erfahren wir, dienten von den 4668 jungen Männern, die einen der deutschen, die anderen der belgischen Armee. Der Erste Weltkrieg spaltete Familien, zog einen Riss mitten durch die Wohnstuben. Als „verwaist, verstört und wie Emil ohne verlässliche Eltern“ beschreibt der Autor die Grenzregion nach Kriegsende. Am 28. Juni 1919 fiel das Gebiet dann letztlich Belgien zu, doch der Riss blieb und mit ihm lässt sich ganz gut beschreiben, wie es im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Region weiterging.
Nach dem zweiten Weltkrieg war dann auch Schluss mit dem Bergbau in der Region. Er war schlicht unrentabel geworden. Und hier schließt sich ein Kreis, endet in gewisser Weise auch die Geschichte von Neutral-Moresnet – bei den Zinkhütten, den Galmei-Vorkommen von Kelmis, mit denen alles begonnen hatte. Knapp einhundertfünfzig Jahre zuvor hatte auf dem Wiener Kongress Uneinigkeit über ihren territorialen Verbleib geherrscht.
Geblieben ist die Geschichte eines Mikrostaats, des letzten Vierländerecks unseres Kontinents, eines europäischen Absurdistans, die so erzählt werden musste, wie es der belgische Historiker David Van Reybrouck meisterlich getan hat: es ist ein Menschenleben das im Vordergrund, dieses von so großen Zusammenhängen getragenen Textes, steht. Zusammenhänge, in denen der einzelne Mensch eigentlich, als billige Kulisse dient.
So liegt uns gleichermaßen ein historischer Essay, wie eine kuriose Geschichtsnovelle vor. Kurzweilig und spannend erzählt, sowie absolut aktuell. Es muss uns schwerfallen während der Lektüre keinen Bezug zur europäischen Gegenwart herzustellen.
„Jetzt ist es Winter, und der erste Schnee fällt“, lautet der Schlusssatz des Buches. Es ist sicher erlaubt, mehr in ihm zu lesen, als die poetische Beschreibung eines meteorologischen Ereignisses.
und nun die werbung:
13 September 2017
film: Kämpfen lernste auf der Straße
KÄMPFEN LERNSTE AUF DER STRASSE
Medienwerkstatt Eyeland (ger / 1991)
regie: Eva Löhr, Claudia Rhein
music: Di'Aslans, Royal Crown Crew
cast: Various
Jugendkriminalität. Ghettobildung. Kinderarmut. Integrationsdefizite, Bildungsmisere und immer wieder Gewalt. Themen die jeden Tag auf den unterschiedlichsten Wegen eingang finden in die Schlagzeilen, Randnotizen und Kommentare unserer meinungsbildenden Medien. Für manche Menschen bedeutet das Einblicke zu bekommen in eine unwirkliche Welt. Eine Welt in der es in der Bundesrepublik Deutschland keine 'echte' Armut und Ausgrenzung gibt, eine Welt in der erst die Welchbletthütte ohne fließendes Wasser das Recht begründet, sich zu beklagen. Für viele andere Menschen ist die Berichterstattung jedoch nur eine Unterfütterung dessen, was sie durchaus auch im Alltag wahrnehmen und womit sie absolut nicht einverstanden sind.
Nur eine Minderheit widmet sich dem hausgemachten 'Problem', tritt in Dialog mit jenen Menschen hinter den Schlagzeilen, die in Statistiken nur als Täter und Opfer aufgeführt werden. Statistiken bauen keine Vorurteile ab und somit widmet sich die Dokumentation 'Kämpfen lernste auf der Straße' aus dem Jahre 1991 von Eva Löhr ausschließlich den Protagonisten, des immer wieder auf- und abflauenden Medienrummels. Der knapp zwanzigminütige Film ist vor über 25 Jahren von der Medienwerkstatt Eyeland auf VHS produziert worden und ein zwingendes Zeitdokument bundesrepublikanischer Geschichte.
In Gesprächen mit den Berliner Jugendgangs Ghetto Sisters, Black Panthers, Fighters, Bright Colors, Fatback und den 36 Boys zeichnet die Medienpädagogin ein Bild das Grenzen verwischt und die Frage stellt, ob das Täter-Opfer-Denken nicht ebenso in die Mottenkiste gehört, wie die reflexive Schutzbehauptung, dass früher alles besser war. Löhr lässt junge Leute zu Wort kommen, stellt sie jedoch nicht aus, wie exotische Käfigtiere. Diese kurze Reportage ist in höchstem Maße sehenswert und ein unbedingter Beweis für die stete Anwesenheit von Niveau und Qualität in der Medienwelt. Danke Eva Löhr, danke allen Beteiligten.
und nun die werbung:
12 September 2017
buch: Johannes Gernert / Generation Porno
Johannes Gernert / Generation Porno
Jugend, Sex, Internet
EAN 9783771644390 / 224 Seiten
Fackelträger (2010) / k.LP. Euro
Blowjob, Gangbang, Double Penetration - Jargon und Lebensart der Jugend?
Es war ein Impuls, der mich zu diesem Buch greifen ließ. Mein müder Blick streifte morgens das Cover eines dereinst im Fackelträger Verlag erschienen Sachbuchs. Darauf zu sehen ein junger Mann, verklärt bis verwegen dreinschauend, leichter Bartflaum, cooles Antlitz und dazu in fetten Lettern der Titel: 'GENERATION PORNO'. Darunter etwas kleiner 'Jugend Sex Internet'. Ich beschloss es mitzunehmen, erstmal einen starken Kaffee zu trinken und später hineinzuschauen. Schließlich vergingen Wochen bis ich bei einem ganz anderen Kaffee saß und mit einem Freund darüber nachdachte, ob wir die Jugend für 'pornofiziert' hielten. Ich erinnerte mich an das kürzlich erstandene Buch, ging heim und begann zu lesen.
Degenerieren also ganze Generationen zu gefühlskalten Onanisten und Gangbangern, weil sie viel zu früh auf Youporn, Redtube und Consorten landen? Ist Analsex noch vor dem ersten Zungenkuss okay? Stehen wir am sexuellen Abgrund? Wird alles Sodom und Gomorrha von Berlin-Neukölln bis Hamburg-Othmarschen? Einige Polit-Talks der Vergangenheit widmeten sich solchen und noch reißerischeren Fragen. Johannes Gernerts Buch ist, obwohl bereits 2010 veröffentlicht, auch gegenwärtig noch ein durchaus lesenswerter Debattenbeitrag.
Er führte zahlreiche Gespräche mit Fachleuten und 'Betroffenen', so unter anderem mit dem Theologen und Arche-Gründer Bernd Siggelkow. Ein durchaus kontroverses Treffen und besonders im Kontext mit den vielen Originaltönen spannend nachzuvollziehen. Ein paar nostalgische Gefühle kommen auf, als ich lese, wie sich der Autor bei den 2009 gehypten und heute längst abgehängten sozialen Netzwerken SchülerVZ und Jappy einloggt, um dort mitzuchatten. Gerade sieben Jahre sind seit Veröffentlichung von GENERATION PORNO vergangen und die digitale Welt hat sich rasant gewandelt. Alles noch ein bisschen schriller und transparenter.
Machen strikte Verbote, Sanktionen oder Strafen wirklich Sinn, wenn es um Pornos im Kinderzimmer oder auf dem Schulhof geht? Mitunter will man bei einigen wirklich erschreckenden Aussagen von Jugendlichen heftig mit dem Kopf nicken, aber ist das dann nicht nur eine diffuse Angst? Eine diffuse Angst davor, dass das alles vielleicht allzu menschlich ist? Nicht die Pornos, nicht die Fäkalsprache, sondern die Rohheit, die sich in ihnen ausdrückt.
Der Autor selbst bleibt um eine differenzierte Haltung bemüht, sagt von sich, dass er Pornos weder abfeiert, noch verteufelt. Vielleicht kam er gerade deshalb so gut und zwanglos in den Dialog mit so unterschiedlichen Menschen aller Altersgruppen. Sein gradliniger Stil und die klare Sprache machen das Buch besonders gut lesbar. Es gehört deshalb ganz und gar nicht nur in die Hände Erwachsener, sondern eignet sich auch als Sachbuch für jugendliche Leser. Auf der Website des Fackelträger Verlags lassen sich übrigens Unterrichtsbegleitmaterialien als PDF-Datei herunterladen.
und nun die werbung: